Können wir uns den Sozialstaat noch leisten?


Können wir uns den Sozialstaat noch leisten?

Ist der Sozialstaat noch finanzierbar für uns? Soziale Reformen in Deutschland

Der deutsche Sozialstaat gilt als eines der umfangreichsten und solidesten Systeme weltweit. Er soll allen Bürgern – von Familien über Arbeitslose bis hin zu Rentnern und Pflegebedürftigen – ein menschenwürdiges Leben sichern.

Doch in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation, steigender Sozialausgaben und demografischer Herausforderungen stellt sich die Frage: Können wir uns diesen Sozialstaat noch leisten? Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat kürzlich mitgeteilt, dass das System in seiner aktuellen Form nicht mehr finanzierbar sei. Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) widerspricht scharf und nennt solche Aussagen „Bullshit“.

Im Vorfeld von Wahlen und inmitten laufender Debatten über Sozialreformen ist es Zeit, die Situation genauer zu beleuchten. Der Sozialstaat ist essenziell, aber er braucht Anpassungen, um nachhaltig zu bleiben.

Die aktuelle Lage: Armut in Deutschland trotz Wohlstand

Trotz eines Bruttoinlandsprodukts von über 4 Billionen Euro leben in Deutschland rund 13 Millionen Menschen in Armut oder unter der Armutsgrenze – das sind 15,5 Prozent der Bevölkerung. Laut dem Paritätischen Armutsbericht 2025 hat sich die Armutsquote im Vergleich zum Vorjahr um 1,1 Prozentpunkte erhöht. Der Bericht basiert auf Daten des Statistischen Bundesamts und zeigt, dass die Inflation und steigende Lebenshaltungskosten besonders vulnerable Gruppen treffen. Insgesamt sind 20,9 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, was etwa 17,6 Millionen Menschen umfasst. Die Sozialausgaben Deutschlands beliefen sich 2024 auf rund 1,3 Billionen Euro, was etwa 30 Prozent des BIP entspricht – ein Wert, der international überdurchschnittlich ist, aber im Vergleich zu Ländern wie Frankreich (über 31 Prozent) nicht der höchste.

Kritiker wie Merz (CDU) argumentieren, dass diese Ausgaben aufgrund wirtschaftlicher Schwäche und demografischer Alterung (weniger Beitragszahler, mehr Leistungsempfänger) nicht mehr tragbar sind.

Befürworter des Systems, darunter der DGB, betonen hingegen, dass die Bürger bereit sind, höhere Beiträge für mehr Sicherheit zu zahlen, und fordern eine Stärkung statt Kürzungen.

Die Debatte dreht sich um Effizienz: Der Sozialstaat schützt vor Armut, birgt aber Risiken wie Anreizfallen für Arbeit und explodierende Kosten in Bereichen wie Rente, Pflege und Gesundheit.

Armutsbetroffene Familien: Kinderarmut als gesellschaftliches Versagen

In Deutschland wachsen rund 2,5 Millionen Kinder in Armut auf – fast jedes fünfte Kind. Besonders betroffen sind Alleinerziehende, von denen 40 Prozent armutsgefährdet sind. Der Paritätische Armutsbericht hebt hervor, dass Armut bei Kindern oft mit Elternarmut einhergeht: Niedrige Löhne und unzureichende soziale Absicherung verhindern eine faire Chance.

Kinderarmut manifestiert sich in schlechterer Ernährung, fehlender Betreuung und geringeren Bildungschancen – armutsbetroffene Kinder erhalten seltener Kitaplätze und eine schlechtere Empfehlung für die weiterführenden Schulen. Ab 2025 fließen über eine Milliarde Euro zusätzlich in den Kinderzuschlag für erwerbstätige Eltern mit geringem Einkommen. Dennoch: Ohne eine Erhöhung des Mindestlohns und Tariftreue bei öffentlichen Aufträgen bleibt die Armut strukturell, warnt der Paritätische. Die SPD plant, den Mindestlohn weiter anzuheben und Erwerbsbeteiligung von Frauen und Einwanderern zu fördern.

Arbeitslose: Bürgergeld als Rettung oder Falle?

Das Bürgergeld, das Hartz IV seit 2023 ersetzt, soll Arbeitslose stärken, statt Armut zu managen. Dennoch kritisieren Parteien wie die FDP eine „grundlegende Reform“: Verschärfte Zumutbarkeitsregeln, Absenkung des Regelsatzes und mehr Kontrollen gegen Missbrauch. Im Jahr 2025 bleibt der Regelsatz für Alleinstehende bei 563 Euro – eine „Nullrunde“ aufgrund sinkender Inflation. Kosten: 42,6 Milliarden Euro, was Kritiker als „ausufernd“ sehen. Arbeitslose, oft mit psychischen Erkrankungen (jeder Dritte) finden keine Arbeitsstelle auf dem ersten Arbeitsmarkt. Viele Niedriglöhner verdienen kaum mehr als Bezieher von Bürgergeld.

Rentner: Altersarmut – besonders für Frauen

Jeder fünfte Rentner ist armutsgefährdet, Frauen stärker betroffen (21,4 Prozent der über 65-Jährigen). Gründe: Niedrige Beiträge durch Teilzeit, Kindererziehung oder Pflege, was Frauen trifft. Der Bericht von Human Rights Watch kritisiert, dass der Sozialstaat Geschlechterungleichheit verstärkt. Parteien fordern Aufwertung: Die Grünen eine Mindestrente von 1.400 Euro plus Mietzuschuss. Die SPD plant Anreize für Weiterarbeit nach Renteneintritt und höhere Rentenniveaus auf 53 Prozent. Kosten explodieren: Rentenleistungen beliefen sich 2024 auf 408 Milliarden Euro. Reformideen wie eine Bürgerversicherung (SPD, Grüne) sollen Beiträge stabilisieren.

Pflegebedürftige: Erhöhung der Leistungen, aber anhaltende Belastung

Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt durch Demografie; Kosten: Über 50 Milliarden Euro jährlich. Ab 2025 erhöhen sich Leistungen um 4,5 Prozent: Pflegegeld von 316 auf 330 Euro (Grad 2), Entlastungsbetrag auf 131 Euro. Ein gemeinsames Budget für Verhinderungs- und Kurzzeitpflege (bis 3.539 Euro ab Juli 2025) entlastet Angehörige. Trotzdem: Eigenanteile explodieren, das Teilleistungssystem scheitert, fordert der DGB. Die Beitragserhöhung reicht langfristig nicht. Reformen: Mehr Digitalisierung und Zuschüsse für Wohnanpassung (4.180 Euro). Die SPD will höhere Entschädigungen für Pflegende.

Niedriglöhner: Nicht sichtbar mit prekären Arbeitbedingungen

1,2 Millionen Vollzeit-Niedriglöhner sind aktuell armutsgefährdet; Frauen dominieren Minijobs (zwei Drittel). Die Sozialpolitik im Zuge der Hartz-IV-Gesetzgebung (Agenda 2010 ) hatte zur Entstehung und Zunahme prekärer Arbeitsbedingungen beigetragen, da die Reformen die Arbeitslosigkeit senken sollten, was jedoch auch zu einem Anstieg unsicherer Beschäftigungsverhältnisse mit niedrigen Löhnen, mangelnder sozialer Absicherung und Arbeitsplatzunsicherheit führte.

Beispiele für prekäre Arbeitbedingungen

  • Minijobs und 400-Euro-Jobs: Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ohne ausreichende Absicherung, die für den Lebensunterhalt oft nicht ausreichen. 
  • Leiharbeit und Werkverträge: Formen atypischer Beschäftigung mit unsicheren Bedingungen und teilweise fehlender Festanbindung. 
  • Befristete Arbeitsverhältnisse: Insbesondere Kettenbefristungen, bei denen sich die Beschäftigung immer wieder nur für kurze Zeiträume verlängert. 
  • Teilzeitbeschäftigung: Wenn sie unfreiwillig ist, die Stunden stark reduziert sind und nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts ausreicht. 

Prekäre Arbeitsbedingungen führen zu: 

  • Zukunftsängsten: Unsicherheit bezüglich der Lebensplanung und der langfristigen finanziellen Stabilität. 
  • Gesundheitlichen Problemen: Erhöhter Stress und gesundheitliche Belastungen können die Folge sein. 
  • Eingeschränkter Teilhabe: Schwierigkeiten bei der sozialen und gesellschaftlichen Integration aufgrund mangelnder Ressourcen und unsicherer Arbeitsverhältnisse. 

Der Mindestlohn steigt 2025, doch viele verdienen kaum mehr als Bürgergeld (563 Euro). Hartz IV stockt zum Niedriglohn auf, kostet dem Staat Milliarden und schafft Anreizfallen. Reformen: FDP will Zumutbarkeitsregeln verschärfen, Der Paritätische fordert 15 Euro Mindestlohn und Ausbau der Grundsicherung. Ohne Reformen bleibt der Niedriglohnsektor und wird wachsen.

Höhere Löhne, Kontrollen gegen Missbrauch

Experten wie Ökonomin Heike Joebges plädieren für mehr Steuerfinanzierung der Rente und eine Bürgerversicherung, um Beiträge zu stabilisieren.

Der DGB fordert ein „festes“ Pflegesystem ohne explodierende Eigenanteile.

Merz‘ Koalition plant Kommissionen für Reformen, doch ein „Herbst der Reformen“ scheitert vielleicht an Streit.

Ja, wir können – aber mit Reformen

„In der aktuellen Debatte werden steigende Sozialausgaben per se als Problem dargestellt.“ … „Man kann es indes auch anders sehen: Sozialleistungen sollen Probleme vermeiden und gerade Menschen mit geringem und mittlerem Einkommen bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter finanziell absichern und vor Armut bewahren.“ Zitat Eva Roth vom 21.08.2025, Artikel Sozialstaat: Was wir uns leisten können (https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193490.reformvorschlaege-sozialstaat-was-wir-uns-leisten-koennen.html)

Deutschland kann sich den Sozialstaat leisten, solange er effizient und gerecht ist. Die Ausgabenquote ist stabil (ca. 30% BIP), doch der Druck durch Demografie und Stagnation wächst.

Vulnerable Gruppen wie armutsbetroffene Familien, Arbeitslose, Rentner, Pflegebedürftige und Niedriglöhner brauchen Schutz, keine Kürzungen.

Sozialreformen müssen Anreize schaffen, Löhne heben und die Finanzierung sichern.

Die Bundes und Landes Wahlen werden entscheiden, ob wir den Sozialstaat stärken oder schwächen.

Ohne Mut zu Kompromissen droht eine Spaltung, die alle trifft. Es ist Zeit für einen
gerechten Sozialstaat.

Forderungen der Nationalen Armutskonferenz

BAG Arbeit Der Schattenbericht 2025 zu Armut in Deutschland wurde von der Nationalen Armutskonferenz veröffentlicht. Er wurde gemeinsam von Menschen mit Armutserfahrung sowie Organisationen und Verbänden erarbeitet.

  • Um Armut langfristig zu bekämpfen, fordert die Nationale Armutskonferenz unter anderem:
  • Armutsbekämpfung als festes sozialstaatliches Ziel mit gesicherter Finanzierung
  • Vereinfachter Zugang zu sozialen Leistungen und Abbau von Stigmatisierung
  • Verlässliche soziale Infrastruktur, insbesondere für Bildung und Kinderförderung
  • Gezielte Unterstützung für getrennte Eltern mit doppeltem Haushaltsbedarf
  • Mehr soziale Inklusion statt wirtschaftlicher Profitmaximierung als politisches Leitbild

Der Bericht zeigt nicht nur statistische Zahlen, sondern auch, was es bedeutet, in Deutschland arm zu sein – aus der Perspektive der Betroffenen. (https://www.bagarbeit.de/news/schattenbericht-2025-armut-in-deutschland/)

Quellen

Anregungen und Beiträge

  • Artikel Sanktionen statt Unterstützung Warum Jobcenter-Sanktionen für Bürgergeld-Empfänger menschenunwürdig und kontraproduktiv sind (Beitrag hier klicken)
  • Artikel: „Wenn Du Dich nicht um mich kümmerst, dann verlasse ich Dich.“ Deine Demokratie (Beitrag hier klicken)
  • Artikel: Kriege, Katastrophen, Klimakrise die seelische-psychische Gesundheit nicht vernachlässigen Empathie von Hochsensiblen (Beitrag hier klicken)
  • Artikel Die Herausforderungen der Gegenwart sind vielfältig: Klimawandel, die Schere zwischen Arm und Reich, die angespannte geopolitische Lage (Beitrag hier klicken)

2 Kommentare zu „Können wir uns den Sozialstaat noch leisten?

  1. Vielen Dank für diese ausführliche und detailreiche Recherche! Leider vermisse ich in der politischen Debatte eine ähnlich differenzierte Darstellung der Problematik – stattdessen grobe und faktenfreie Behauptungen wie die von Merz (wir könnten leicht 5 Mrd. Euro beim Bürgergeld einsparen …).

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  2. Was noch fehlt: Das Thema Reform der Krankenversicherung habe ich ausgespart. Danke für den Kommentar. Ja, leider werden die Diskussionen zur Sozialreform verkürzt und auch falsch dargestellt. So ist es nicht verwunderlich, dass dies zu Missverständnissen führt und die Menschen frustriert. LG von Elke Overhage

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